Die Gurke am Weihnachtsbaum

Weihnachtsbaum mit Gurke

Stellen Sie sich vor, Sie besuchen zur Weihnachtszeit Freunde in den USA. Der festlich geschmückte Tannenbaum steht im Wohnzimmer und plötzlich beginnt die Suche: Wo ist die Weihnachtsgurke? Die Kinder krabbeln unter den Baum, spähen zwischen die Zweige und Sie verstehen nur Bahnhof. Eine Gurke? Im Weihnachtsbaum?

Willkommen beim „Christmas Pickle“, einem Brauch, der in den USA seit Jahrzehnten zum Fest gehört und von dem viele Amerikaner überzeugt sind, er stamme aus Deutschland. Aus unserem Deutschland. Dem Land der Weihnachtsmärkte, der Lebkuchen und – natürlich – der sauren Gurken.

Die Sache hat nur einen Haken: Wir Deutschen kennen diesen Brauch nicht. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov stellte 2016 fest, dass 91 Prozent der Befragten hierzulande noch nie von der Weihnachtsgurke gehört hatten. Nur zwei Prozent gaben an, die Tradition selbst zu praktizieren.

Das Spiel funktioniert so: Eine mundgeblasene Glasgurke in sattem Grün wird am Heiligen Abend zwischen den Tannenzweigen versteckt. Wer sie am Weihnachtsmorgen als Erster entdeckt, erhält ein zusätzliches Geschenk und darf seine Gaben als Erster öffnen. Außerdem soll derjenige im kommenden Jahr besonders viel Glück haben. Die grüne Farbe macht die Suche zur Herausforderung – je nach Größe der Gurke und Geschick beim Verstecken kann das dauern.

Woher kommt nun dieser merkwürdige Brauch? Die Amerikaner erzählen sich gerne folgende Legende: Ein deutschstämmiger Soldat überlebte im Bürgerkrieg dank einer Essiggurke und hängte fortan jedes Jahr eine Gurke in seinen Weihnachtsbaum. Oder von spanischen Kindern, die der Heilige Nikolaus aus einem Gurkenfass rettete.

Die nüchterne Wahrheit führt ins 19. Jahrhundert. Frank Winfield Woolworth, Gründer der gleichnamigen amerikanischen Kaufhauskette, entdeckte auf einer Deutschlandreise um 1880 mundgeblasenen Christbaumschmuck aus Thüringen – darunter Figuren in Form von Obst, Nüssen und eben auch Gurken. Die Glasbläser aus Lauscha belieferten die ganze Welt mit ihren kunstvollen Kreationen. Woolworth erkannte das Geschäftspotenzial, importierte die Glaswaren massenhaft in die USA und versah sie vermutlich mit einer rührseligen Ursprungsgeschichte von „alter deutscher Tradition“. Marketing funktionierte schon damals.

Ob es tatsächlich eine regionale, längst vergessene Tradition in Thüringen oder Bayern gab, ist ungeklärt. Eine alte Form zur Herstellung von Glasgurken aus dem späten 19. Jahrhundert, die sich im Besitz eines oberfränkischen Glasbläsers befindet, könnte darauf hindeuten. Aber sicher ist das nicht.

Heute hat die Geschichte eine charmante Wendung genommen: Die Weihnachtsgurke taucht inzwischen auch in Online Shops und auf deutschen Weihnachtsmärkten auf. Manche Händler verkaufen sie mit einem Augenzwinkern, quasi als Freundschaftsdienst an Amerika, das so fest an unsere „Tradition” glaubt. Ein deutsch-amerikanischer Reimport also, bei dem niemand mehr so genau weiß, wer hier wen an der Nase herumführt.

In Berrien Springs, Michigan, hat man die Sache jedoch sehr ernst genommen. Die Stadt nennt sich selbst „Christmas Pickle Capital of the World” und veranstaltet seit 1992 ein jährliches Gurkenfest mit Parade.

Vielleicht sollten wir die Weihnachtsgurke einfach zurücknehmen als das, was die Amerikaner in ihr sehen: echte deutsche Tradition. Neben Sauerkraut und Sauerbraten reiht sich die saure Gurke am Weihnachtsbaum doch ganz gut ein.

Illustration erstellt mit KI