Auf den Spuren der Stellerschen Seekuh: Eine Reise durch Geschichte und Artensterben

Stellersche Seekuh. Illustration: KI
So könnte sie ausgesehen haben, die Stellersche Seekuh. Illustration: KI, Prompt Ulla Blohberger

Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal von der Stellerschen Seekuh gehört? Ich nicht – bis ich Iida Turpeinens Roman Das Wesen des Lebens las. Dieses mächtige, friedfertige Meeressäugetier wurde im 18. Jahrhundert kurz nach seiner Entdeckung ausgerottet. In Turpeinens Roman wird es zum Schlüssel einer faszinierenden Geschichte über Naturliebe, Wissenschaft und die Vergänglichkeit des Lebens.

Ausgangspunkt der Erzählung ist das Skelett der Seekuh im Naturhistorischen Museum in Helsinki. Von dort springt die Autorin mitten ins 18. Jahrhundert zur Großen Nordischen Expedition, die im Auftrag der Zarin unter der Leitung eines dänischen Marineoffiziers in russischen Diensten, Vitus Bering, die nördlichen Küsten des russischen Reichs vermessen soll. Mit an Bord ist der deutsche Naturforscher Georg Wilhelm Steller, der unermüdlich sammelt, skizziert und dokumentiert.

Als das Schiff in der Nähe der später nach Bering benannten, unbewohnten Insel Schiffbruch erleidet, retten sich die Männer dorthin. Es beginnt ein Überlebenskampf: Skorbut, Hunger und eisige Kälte setzen ihnen zu. Viele Männer sterben, darunter auch Kapitän Vitus Bering. Doch Steller bleibt unbeirrt und nutzt jede Gelegenheit, um Flora und Fauna zu erfassen. Dabei entdeckt er ein riesiges Tier im flachen Wasser: eine Seekuh, so groß wie ein Wal, so sanft wie eine Kuh und völlig wehrlos. Die Männer jagen und erlegen das riesige Tier mühsam, sein Fleisch rettet sie vor dem Tod. Doch Steller denkt bereits weiter. Er will seine Entdeckung dokumentieren und träumt davon, dass das Tier eines Tages seinen Namen tragen wird.

Steller bittet Johann Sind, eine Truppe zusammenzustellen und für ihn eine Seekuh zu fangen. Sind willigt ein, Seekühe zu jagen ist ein großes Vergnügen, und bald liegt eine prächtige Kuh auf den Kieseln. Das Junge folgt seiner Mutter bis ins seichte Wasser, ruft sie mit grellen Schreien, aber Steller verdrängt sein Unbehagen. Er kann diese Tier der Akademie nur bringen, wenn er es aus seiner Haut schält. Das Werkzeug eines Naturforschers ist kein vage Idee oder Empfindung, sondern ein scharfes Messer und ein unbeirrbarer Schnitt, ein unerschrockener Blick in die feuchten Eingeweide.

Das Wesen des Lebens ist weit mehr als eine einfache Abenteuergeschichte. In vier eng miteinander verwobenen Erzählsträngen spannt Turpeinen einen Bogen von der Entdeckungsexpedition im 18. Jahrhundert über die Kolonialzeit Alaskas im 19. Jahrhundert, in der sich der Zoologe Alexander von Nordmann und die Zeichnerin Hilda Olsson bemühen, die Erinnerung an die Seekuh zu bewahren, bis in die 1950er-Jahre nach Helsinki, wo der Restaurator John Grönvall das erste Skelett zusammensetzt. Geschickt mischt Turpeinen Tagebucheinträge, Listen, wissenschaftliche Zitate und geographische Koordinaten mit stimmungsvollen Szenen. Diese besondere Form verleiht dem Roman die Anmutung eines Forschungsberichts und sorgt gleichzeitig für große Spannung.

Der Roman beleuchtet zentrale Themen der Menschheitsgeschichte: Forscherdrang, koloniale Machtansprüche, patriarchale Strukturen, den rücksichtslosen Umgang mit Tieren, Pflanzen und der Natur und die tiefgreifende Frage, was bleibt, wenn eine Art unwiederbringlich verschwindet. Turpeinen schildert eindringlich, dass selbst Wissensdurst und gut gemeinter Naturschutz zerstörerisch wirken können, wenn der Mensch nicht innehält und seine Handlungen reflektiert.

Das Wesen des Lebens hat mich von der ersten Seite an gefesselt. Zuerst hörte ich das Hörbuch, später las ich den Roman und entdeckte dabei immer neue, faszinierende Details. Dieses Buch schärft den Blick für die Welt und lädt dazu ein, achtsamer mit der Natur umzugehen. Die Stellersche Seekuh mag längst verschwunden sein, doch in Turpeinens Erzählung erwacht sie für einen Moment zu neuem Leben. Literatur wird hier zum Ort, an dem Verlorenes weiterbesteht. Ein wunderbares Buch für alle, die sich für Natur, Geschichte und kluge, vielschichtige Erzählungen begeistern.

Die Autorin

Iida Turpeinen, geboren 1987, lebt in Helsinki und forscht derzeit an einer Dissertation zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Literatur. Sie ist eine preisgekrönte Autorin von Kurzgeschichten und legt mit Das Wesen des Lebens ihren ersten Roman vor.

Iida Turpeinen. Das Wesen des Lebens. S. Fischer Verlag

Das Wesen des Lebens
von Iida Turpeinen. Roman.
Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann.
305 Seiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt. 2025

Gleichnamiges Hörbuch
Gelesen von Heike Warmuth
Laufzeit: 7 Stunden, 20 Minuten
Verlag Argon Digital

Sehenswert
ist das rund dreiminütige Video von ZDF BuchZeit
mit Fokus auf den Forscher und Entdecker der Stellerschen Seekuh Georg Wilhelm Steller.

Zum Beitragsbild
Die Illustration der Stellerschen Seekuh habe ich mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz Google Gemini Flash 2.5 erstellt.