Manchmal sind es die spontanen Entscheidungen, die die besten Entdeckungen bringen. Kurz bevor ich zur Bushaltestelle aufbreche, greife ich mit geschlossenen Augen ins Bücherregal. Die Spielregel ist einfach: Was ich erwische, wird gelesen – von der ersten bis zur letzten Seite.
In meiner Hand landet ein schmales Buch, perfekt für die Jackentasche. „Wie ein Roman“ von Daniel Pennac, erschienen 1992 bei Kiepenheuer & Witsch, später in der „Kleinen Reihe“ der Büchergilde Gutenberg. Ein Buch, das rund dreißig Jahre auf diesen Moment gewartet hat. Im Bus ziehe ich es neugierig aus der Tasche und lese auf der Rückseite: „Die zehn unantastbaren Rechte des Lesers“. Eine Liste, die sofort meine Aufmerksamkeit hat. Lese-Rechte? Warum brauchen wir die eigentlich? Können wir nicht frei entscheiden, was, wann und wie wir lesen?
Daniel Pennac, französischer Schriftsteller und Lehrer, erzählt von einem Vater und seinem Sohn. Der Junge wächst in einem lesefreudigen Elternhaus auf, Bücher sind ein fester Bestandteil seines Alltags. Voller Begeisterung stürzt er sich ins Lesen – bis der Schulalltag das verändert. Der Wendepunkt: Eine Hausaufgabe zwingt den Sohn, innerhalb von 14 Tagen Gustave Flauberts „Madame Bovary“ zu lesen und zusammenzufassen. 446 Seiten. Der Spaß wird zur Pflicht. Der Junge bleibt auf Seite 48 stecken, verliert die Lust und gibt auf.
Was ist geschehen? Der Vater erkennt schmerzhaft, dass aus einem Vergnügen eine Aufgabe geworden ist. Lesen ist plötzlich keine Entdeckungsreise mehr, sondern ein Mittel zum Zweck: Noten, Wissen, Bildung. Der Druck steigt – und die Lesefreude stirbt. Diese Beobachtung ist der Ausgangspunkt für Pennacs Essay, der zugleich autobiografisch, literaturpädagogisch und philosophisch daherkommt. Mit leichter Hand und französischem Charme plädiert er dafür, das Lesen wieder zu dem zu machen, was es sein sollte: eine freie, persönliche Erfahrung.
Die zehn unantastbaren Rechte
Pennacs berühmte Liste der Leserechte ist mehr als eine Provokation. Sie ist ein Manifest gegen den Bildungsdruck und für die Autonomie jedes einzelnen Lesers:
Das Recht, nicht zu lesen. Das Recht, Seiten zu überspringen. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen. Das Recht, noch einmal zu lesen. Das Recht, irgendetwas zu lesen. Das Recht auf Boverysmus – das wunderbare Eintauchen in ein anderes Leben. Das Recht, überall zu lesen. Das Recht, herumzuschmökern. Das Recht, laut zu lesen. Das Recht, zu schweigen.
Besonders das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen, hat für mich etwas Befreiendes. Wie oft schleppen wir uns durch Bücher, nur weil wir glauben, wir müssten? Pennac befreit uns von dieser Pflicht. Gleichzeitig verteidigt er das Recht, Groschenromane, Comics oder Trivialliteratur zu lesen – „irgendetwas“ eben. Lesen muss nicht immer Bildungslektüre sein.
Der „Boverysmus“ – benannt nach Flauberts Emma Bovary – beschreibt das vollständige Aufgehen in einer Romanwelt, das Vergessen der eigenen Realität. Pennac feiert diese Form des Lesens als höchste Form der Lust und wehrt sich gegen jene, die Lesen nur als Wissenserwerb verstehen.
Ein Buch für alle, die das Lesen lieben – oder wieder lieben lernen wollen
„Wie ein Roman“ ist ein kluges Plädoyer für selbstbestimmtes Lesen. Pennac schreibt warmherzig, humorvoll und mit der Autorität des erfahrenen Lehrers, der weiß, wie schnell Zwang die Freude zerstört. Das Buch wendet sich an Eltern, Lehrer und alle, die junge Menschen fürs Lesen begeistern wollen – aber auch an uns selbst, wenn wir uns daran erinnern möchten, warum wir überhaupt angefangen haben zu lesen.
Für mich war dieser Zufallsfund eine kleine Kostbarkeit. Das Buch erinnert daran, dass Bücher ein Geschenk sind – keine Verpflichtung. Lesen darf Freude sein, Vergnügen, Flucht, Abenteuer. Und manchmal darf man ein Buch auch einfach zur Seite legen.
Der Autor
Daniel Pennac (geboren als Daniel Pennacchioni, 1944 in Casablanca, Marokko) ist ein französischer Schriftsteller und ehemaliger Lehrer. Er ist vor allem für seine Romane sowie Kinder- und Jugendbücher bekannt. Einem breiten Publikum wurde er durch seine „Malaussène“-Reihe bekannt, in der er das Leben einer chaotischen Familie in Paris erzählt. Zudem ist er als Förderer der Lesekultur aktiv.

Wie ein Roman
von Daniel Pennac.
Aus dem Französischen von Uli Aumüller.
164 Seiten. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt. 1992.