Zurück zur Lesefreude: Pennacs kluge Regeln

Leselust. Foto: candy 1812 / Adobe Stock
Leselust. Foto: candy 1812 / Adobe Stock

Manchmal sind es die spontanen Entscheidungen, die die besten Entdeckungen bringen. Kurz bevor ich zur Bushaltestelle aufbreche, stelle ich fest: Ich brauche etwas zu lesen. Spontan greife ich ins Bücherregal – diesmal bewusst mit geschlossenen Augen. Die Regel ist einfach: Was ich erwische, wird gelesen. Kein Zurück, kein Aussortieren.

In meiner Hand landet ein schmales Buch, perfekt für die Jackentasche. Und die Spielregel ist klar: Es begleitet mich auf den nächsten Busfahrten – von der ersten bis zur letzten Seite, egal, worum es geht oder wer es geschrieben hat. Mein Zufallsfund? „Wie ein Roman“ von Daniel Pennac, erschienen 1992 in der „Kleinen Reihe“ der Büchergilde Gutenberg. Ein Buch, das rund dreißig Jahre auf diesen Moment gewartet hat.

Im Bus ziehe ich es neugierig aus der Tasche und lese auf der Rückseite: „Die zehn unantastbaren Rechte des Lesers“. Eine Liste, die sofort meine Neugier weckt – wie eine moderne Version der Zehn Gebote, nur eben für Bücherfreunde.

1. Das Recht, nicht zu lesen
2. Das Recht, Seiten zu überspringen
3. Das Recht, ein Buch nicht zu Ende zu lesen
4. Das Recht, noch einmal zu lesen
5. Das Recht, irgendetwas zu lesen
6. Das Recht auf Boverysmus (Eintauchen in ein anders Leben)
7. Das Recht, überall zu lesen
8. Das Recht, herumzuschmökern
9. Das Recht, laut zu lesen
10. Das Recht, zu schweigen

Warum brauchen wir eigentlich Lese-Rechte? Schließlich können wir doch jederzeit frei entscheiden, was, wann und wie wir lesen – oder etwa nicht? Mit dieser Frage im Kopf beginne ich zu lesen.

Daniel Pennac erzählt von einem Vater, der zugleich Lehrer ist, und seinem Sohn. Der Junge wächst in einem lesefreudigen Elternhaus auf, Bücher sind ein fester Bestandteil seines Alltags. Voller Begeisterung stürzt er sich ins Lesen – bis der Schulalltag das verändert.

Der Wendepunkt: Eine Hausaufgabe zwingt den Sohn, innerhalb von 14 Tagen Gustave Flauberts „Madame Bovary“ zu lesen und zusammenzufassen. 446 Seiten. Der Spaß wird zur Pflicht. Der Junge bleibt auf Seite 48 stecken, verliert die Lust und gibt schließlich auf. Was ist geschehen? Der Vater erkennt, dass aus einem Vergnügen eine Aufgabe geworden ist. Lesen ist plötzlich keine Entdeckungsreise mehr, sondern ein Mittel zum Zweck: Noten, Wissen, Bildung. Der Druck steigt – und im schlimmsten Fall endet alles im völligen Frust.

Pennac plädiert dafür, das Lesen wieder zu dem zu machen, was es sein sollte: eine freie, persönliche Erfahrung. Zehn unantastbare Rechte stellt er auf – vom Recht, nicht zu lesen, bis zum Recht, überall zu lesen. Es sind Regeln, die Mut machen, das Lesen neu zu entdecken und einfach nur zu genießen.

Für mich ist dieses Buch ein kluges Plädoyer für selbstbestimmtes Lesen. Es erinnert daran, dass Bücher ein Geschenk sind – keine Verpflichtung. Lesen und warten. Lesen als Freude. Eine kleine Kostbarkeit, die uns den Weg zurück zur Lesefreude zeigt.

Der Autor
Daniel Pennac (geboren als Daniel Pennacchioni, 1944 in Casablanca, Marokko) ist ein französischer Schriftsteller und ehemaliger Lehrer. Er ist vor allem für seine Romane sowie Kinder- und Jugendbücher bekannt. Einem breiten Publikum wurde er durch seine „Malaussène“-Reihe bekannt, in der er das Leben einer chaotischen Familie in Paris erzählt. Zudem ist er als Förderer der Lesekultur aktiv.

Daniel Pennac: Wie ein Roman. Büchergilde Gutenberg.

Wie ein Roman
von Daniel Pennac.
Aus dem Französischen von Uli Aumüller.
164 Seiten. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt. 1992.