Nebel über dem Kleinen Feldberg: Nachbeben von Dirk Kurbjuweit

Nachbeben von Dirk Kurbjuweit. Illustration: KI-generiert, Umschlag: Penguin Verlag.

Dirk Kurbjuweits Roman Nachbeben stand bereits im April im Mittelpunkt des Festivals Frankfurt liest ein Buch. Jetzt im Oktober ist die Kulisse perfekt. Nebel und frühe Dunkelheit bieten den passenden Rahmen und ich greife den Roman noch einmal auf.

Die Handlung führt von Frankfurt über den Kleinen Feldberg im Taunus bis nach Köln. Im Zentrum steht der junge, aufstrebende Banker Lorenz: Er will hoch hinaus und fällt tief. Lorenz wächst auf dem Kleinen Feldberg auf, wo sein Nachbar, der abgeschieden lebende Luis, in der Von Reinach’schen Erdbebenwarte unermüdlich seismografische Daten registriert, auswertet und archiviert. Abgesehen von Luis wohnen hier nur Lorenz‘ Eltern, das Verwalterehepaar Konrad und Charlotte.

Wir lagen im Nebel, auch das weiß ich noch. Selbst wenn ich mich nicht so genau erinnern würde, könnte ich mit diesem Satz kaum etwas Falsches behaupten. Wir haben hier zweihundert Nebeltage im Jahr. Die Wolken mögen uns, sie mögen den Kleinen Feldberg im Taunus, sie verweilen gern, bevor sie nach Frankfurt weiterziehen.

Zwischen Luis und Lorenz entsteht eine stille, generationenübergreifende Freundschaft. Eines Nachts erschüttert ein Beben das Rheinland. Eine verängstigte Frau ruft in der Erdbebenwarte an. Lorenz, der zufällig vor Ort ist, nimmt den Anruf entgegen. Das Gespräch verändert sein Leben: Er sucht noch in der selben Nacht die Anruferin in Köln auf, verliebt sich in sie und heiratet sie. Mit Selma zieht er nach Kronberg, träumt von einem glänzenden Leben zwischen Karriere bei der Bundesbank und gesellschaftlichem Aufstieg im Frankfurter Speckgürtel.

Doch die Fassade bekommt Risse. Ein Netz aus Geheimnissen, Fehlentscheidungen und kleinen Lügen zieht sich durch Lorenz’ Leben bis seine Karriere ins Wanken gerät. Als im Zuge der Euro-Einführung die Strukturen in der Bank umgebaut werden, verliert er seinen Job. Der Absturz ist unausweichlich.

Dirk Kurbjuweit erzählt ruhig, fast gelassen und doch baut sich unter dieser Oberfläche eine stetige Spannung auf. Wie ein Seismograf erfasst er die feinen Brüche in den Biografien seiner Figuren. Im Taunus, zwischen Nebel, Wind und karger Landschaft, spürt man diese innere Unruhe. Der Berg wird zum Sinnbild für Beständigkeit und Einsamkeit zugleich, Frankfurt dagegen zur Bühne für Ehrgeiz, Versuchung und Verlust.

Das leise Beben dieser Erzählung war für mich beim Lesen beinahe körperlich spürbar. Lorenz‘ dramatische Entwicklung, der Weg von Aufstieg zum Absturz, von strenger Kontrolle zum Kontrollverlus, wird dabei erschreckend glaubwürdig dargestellt. Kurbjuweit gelingt es beeindruckend, den gesellschaftlichen Wandel, die Euro-Einführung, und wirtschaftliche Hochs und Tiefs, mit den inneren Erschütterungen der fünf Hauptfiguren zu verschmelzen. Erst der plötzliche, ungeklärte Tod von Konrad und Charlotte markiert die existenzielle Wende. Für Lorenz öffnet sich dadurch die Tür zur Rückkehr zu den Wurzeln: zum Kleinen Feldberg, zu Luis und letztlich zu sich selbst.

Die Wahl von Dirk Kurbjuweits Roman zum diesjährigen Festivalbuch war ausgezeichnet. Mit seinen Kernfragen zu Veränderung, Verantwortung und der Sehnsucht nach Beständigkeit trifft das Werk einen Nerv, der in der heutigen Zeit ebenso relevant ist wie zur Ära der Euro-Einführung.

Der Autor

Dirk Kurbjuweit, 1962 geboren,  Journalist und Schriftsteller,  arbeitete viele Jahre als Redakteur bei der Zeit und ist heute für den Spiegel in Berlin tätig. Für seine Reportagen wurde er mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Neben seiner journalistischen Arbeit veröffentlichte er mehrere Romane, darunter Die Einsamkeit der Krokodile und Schussangst, die beide verfilmt wurden. Eine besondere Verbindung hat Kurbjuweit zum Taunus: Er verbrachte Teile seiner Kindheit in der Nähe des Kleinen Feldbergs – der Landschaft, die er als Schauplatz seines Romans Nachbeben gewählt hat. Die Atmosphäre dieses Ortes mit Nebel, Wind und Einsamkeit prägt die Stimmung des Buches spürbar. Kurbjuweit lebt mit seiner Familie in Berlin.

Dirk Kurbjuweit: Nachbeben. Penguin Verlag.

Nachbeben
von Dirk Kurbjuweit. Roman.
22 Seiten. Penguin Verlag, München. 2025

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Die Illustration wurde von mir mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz Firefly erstellt.