Drei Tage im Juni: Wenn das Leben plötzlich wieder anklopft

Anne Tyler: Drei Tage im Juni. Illustration: Adobe Stock.
Anne Tyler: Drei Tage im Juni. Illustration: Adobe Stock.

Der Juni ist die Zeit der langen Abende, der Hochzeiten und des Übergangs vom Frühling zum Sommer. Zwischen Pfingstrosen und Grillenzirpen liegt oft ein leiser Zauber in der Luft, manchmal aber auch ein emotionales Gewitter. In Anne Tylers Roman Drei Tage im Juni entladen sich an genau an drei Tagen alte Spannungen, es kommen aber auch neue Fragen auf und nicht zuletzt keimt Hoffnung.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Ich-Erzählerin Gail, eine Frau Anfang sechzig, die am Vormittag unerwartet ihren Job als Lehrerin verloren hat. Sie fährt nach Hause, um nachzudenken und zur Ruhe zu kommen. Plötzlich nimmt sie eine männliche Person vor ihrer Tür wahr.

Das Komische war: Eine halbe Sekunde lang hatte ich angenommen, das an der Tür wäre Max, und ich hatte mich schon empört: Hat man denn nie seine Ruhe vor diesem Menschen?

Es ist tatsächlich Max, ihr Ex-Mann. Nach der Trennung ist er ihr fremd geworden, seit Jahren hat sie nur wenige Worte mit ihm gewechselt. Der Grund für seinen Besuch ist die dreitägige Hochzeit der gemeinsamen Tochter Debbie. Da Max nicht ohne seine Katze reisen kann, der Bräutigam aber auf Katzenhaare allergisch reagiert, fragt Max nach, ob er statt bei der Tochter bei Gail übernachten kann. Nur für ein paar Tage, sagt er. Gail lässt es zähneknirschend zu, auch wenn es für sie kaum zu ertragen ist, wieder mit Max unter einem Dach zu leben, selbst für kurze Zeit.

Was folgt, ist ein fein gezeichnetes Kammerspiel aus alten Verletzungen, vertrauten Routinen und der Frage: Was bleibt, wenn man ein gemeinsames Leben hinter sich gelassen hat und trotzdem noch miteinander lacht, sich ärgert und Erinnerungen teilt?

Anne Tyler gelingt es auf humorvolle und erfrischende Weise, uns aus unserem eigenen Alltag zu entführen und uns für eine Weile die ganze Welt um uns herum vergessen zu lassen. [Hamburger Abendblatt]

Anne Tyler erzählt diese drei Tage mit leiser Ironie und großer Menschenkenntnis. Sie braucht keine spektakulären Wendungen, um Gail spüren zu lassen, was war, was ist und was vielleicht noch kommen könnte. Die anstrengende Hochzeitsprobe mit den Eltern des Bräutigams, ein überraschendes Geständnis der Tochter, die Suche nach einem passenden Anzug für Max: Aus diesen Alltagsmomenten entsteht ein liebevoller, oft komischer und zugleich melancholischer Blick auf ein Frauenleben zwischen Loslassen und Neuanfang.

Dieser Roman hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ich mag Anne Tylers ruhige Art des Erzählens, ihren feinsinnigen Humor und die unaufgeregte Darstellung ganz normaler Menschen mit all ihren Ecken und Kanten. Besonders gelungen finde ich, wie die Ich-Erzählerin Gail ihr Leben reflektiert: leise, ehrlich und nachvollziehbar. Die Geschichte kommt leicht daher und erzählt dennoch viel. Es ist tröstlich zu sehen, dass Glück auch mit sechzig noch einmal anklopfen kann. Und weil Anne Tyler mit wenigen Worten ganze Lebensgeschichten andeutet, genauso wie es der Juni tut: voller Licht, aber nie ohne Schatten.

Die Autorin
Anne Tyler, 1941 in Minneapolis geboren, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen amerikanischen Autorinnen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem Sunday Times Award für ihr Lebenswerk. Zu ihren bekanntesten Romanen zählen Eine gemeinsame Sache, Launen der Zeit, Der leuchtend blaue Faden und Der Sinn des Ganzen. Mehrere ihrer Bücher standen auf der Shortlist des Booker-Preises. Anne Tyler lebt in Baltimore.

Anne Tyler, Drei Tage im Juni

Drei Tage im Juni
von Anne Tyler. Roman.
Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger.
205 Seiten. Kein & Aber, Zürich. 2024