
Der Juni ist die Zeit der langen Abende, der Hochzeiten und des Übergangs vom Frühling zum Sommer. Zwischen Pfingstrosen und Grillenzirpen liegt oft ein leiser Zauber in der Luft – manchmal auch ein emotionales Gewitter. In Anne Tylers Roman „Drei Tage im Juni” entladen sich an genau diesen drei Tagen alte Spannungen, es kommen neue Fragen auf und nicht zuletzt keimt Hoffnung.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Ich-Erzählerin Gail, eine Lehrerin Anfang sechzig, die am Vormittag unerwartet ihren Job verloren hat. Sie fährt nach Hause, um nachzudenken und zur Ruhe zu kommen. Plötzlich nimmt sie einen Mann vor der Tür wahr.
Das Komische war: Eine halbe Sekunde lang hatte ich angenommen, das an der Tür wäre Max, und ich hatte mich schon empört: Hat man denn nie seine Ruhe vor diesem Menschen?
Es ist tatsächlich Max, ihr Ex-Mann, mit dem sie seit Jahren nur wenige Worte gewechselt hat. Der Grund für seinen Besuch ist die dreitägige Hochzeit der gemeinsamen Tochter Debbie. Da Max nicht ohne seine Katze reisen kann, der Bräutigam aber auf Katzenhaare allergisch reagiert, zieht Max statt bei der Tochter kurzerhand bei Gail ein. Nur für ein paar Tage, sagt er. Gail lässt es zähneknirschend zu, auch wenn es für sie kaum auszuhalten ist.
Was folgt, ist ein fein gezeichnetes Kammerspiel aus alten Verletzungen, vertrauten Routinen und der Frage: Was bleibt, wenn man ein gemeinsames Leben hinter sich gelassen hat – und trotzdem noch miteinander lacht, sich ärgert und Erinnerungen teilt?
Anne Tyler gelingt es auf humorvolle und erfrischende Weise, uns aus unserem eigenen Alltag zu entführen und uns für eine Weile die ganze Welt um uns herum vergessen zu lassen. [Hamburger Abendblatt]
Anne Tyler erzählt diese drei Tage mit leiser Ironie und großer Menschenkenntnis. Sie braucht keine spektakulären Wendungen, um Gail spüren zu lassen, was war, was ist und was vielleicht noch kommen könnte. Die anstrengende Hochzeitsprobe, ein überraschendes Geständnis der Tochter, die Suche nach einem Anzug: Aus diesen Alltagsmomenten entsteht ein liebevoller, oft komischer und zugleich melancholischer Blick auf ein Frauenleben zwischen Loslassen und Neuanfang.
Dieser Roman hat mir ausgesprochen gut gefallen. Ich mag diese ruhige Art des Erzählens, den feinsinnigen Humor und die unaufgeregte Darstellung ganz normaler Menschen mit all ihren Ecken und Kanten. Besonders gelungen finde ich, wie die Ich-Erzählerin Gail ihr Leben reflektiert: leise, ehrlich und nachvollziehbar. Die Geschichte kommt leicht daher und erzählt dennoch viel. Es ist tröstlich zu sehen, dass Glück auch mit sechzig noch einmal anklopfen kann. Und weil Anne Tyler mit wenigen Worten ganze Lebensgeschichten andeutet, genauso wie es der Juni tut: voller Licht, aber nie ohne Schatten.
Die Autorin
Anne Tyler, 1941 in Minneapolis geboren, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen amerikanischen Autorinnen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzerpreis und dem Sunday Times Award für ihr Lebenswerk. Zu ihren bekanntesten Romanen zählen Eine gemeinsame Sache, Launen der Zeit, Der leuchtend blaue Faden und Der Sinn des Ganzen. Mehrere ihrer Bücher standen auf der Shortlist des Booker-Preises. Anne Tyler lebt in Baltimore.
Drei Tage im Juni
von Anne Tyler. Roman
205 Seiten. Kein & Aber, Zürich. 2024