
Der Jüdische Friedhof Groß-Gerau bietet einen einzigartigen Einblick in die Geschichte und Kultur des jüdischen Lebens in der Region. Eine Führung, organisiert vom Förderverein Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau e.V., lädt dazu ein, mehr über die Bedeutung dieses Ortes zu erfahren. Begleitet von den Erläuterungen von Pfarrer Walter Ullrich, eröffnet sich ein Blick auf die historischen und kulturellen Spuren, die der Friedhof bewahrt.

Traditionelle Bestattungsriten
Der Jüdische Friedhof in Groß-Gerau ist ein stiller Zeuge der Geschichte der jüdischen Gemeinde im Kreis Groß-Gerau. Dieses „Haus der Ewigkeit“, so die hebräische Bezeichnung für einen jüdischen Friedhof, wurde 1841 angelegt, als etwa 300 jüdische Einwohner im Kreis Groß-Gerau lebten. Der Friedhof folgt den traditionellen Bestattungsriten des Judentums, die nur Erdbestattungen zulassen, Urnenbestattungen sind ausgeschlossen. Die Verstorbenen werden von ihren Angehörigen in besonderen Räumen eines separaten Gebäudes für die rituellen Waschungen vorbereitet, in schlichte Leinentücher gehüllt und zur ewigen Ruhe gebettet. In diesen Ritualen kommt der tiefe Respekt vor dem menschlichen Körper und dem Leben nach dem Tod zum Ausdruck.
Im Gegensatz zum größeren jüdischen Friedhof in Darmstadt-Bessungen, auf dem auch heute noch Waschungen vorgenommen werden können, gibt es auf dem Friedhof in Groß-Gerau kein solches Gebäude mehr. Dennoch ruhen hier 1.300 Juden, die im Laufe der Jahre in der Gemeinde lebten und starben. Der Friedhof wurde bis in die jüngste Zeit genutzt, das letzte Grab stammt aus dem Jahr 2010.
Historische Einflüsse auf die Grabmalgestaltung
Viele Grabsteine auf dem Friedhof sind älter als 1841 und stammen von anderen aufgelassenen Friedhöfen. Vor allem die älteren Steine aus Buntsandstein sind heute stark verwittert. Im Laufe der Zeit, vor allem unter dem Druck der Assimilation, haben sich die jüdischen Grabsteine in ihrer äußeren Form immer mehr den christlichen Grabsteinen angeglichen. Schwarzer Marmor mit zweisprachiger Inschrift, oft in Hebräisch und Deutsch, wurde zur Norm. Interessant ist, dass auf einigen Steinen das Todesjahr nach dem jüdischen Kalender ab 3761 v. Chr. angegeben ist. So kann man auf den Inschriften Jahreszahlen wie 5.600 und mehr entdecken.
Symbole und ihre Bedeutung
Die jüdischen Grabsteine auf dem Friedhof in Groß-Gerau zeigen eine Vielzahl symbolischer Darstellungen, die auf das Leben und die religiöse Bedeutung der Verstorbenen hinweisen. Zum Gebet erhobene Hände symbolisieren den priesterlichen Dienst (Kohanim); Krüge stehen für die Leviten, die im Tempel rituelle Waschungen vornahmen; Messer verweisen auf die Beschneidung, einen zentralen Ritus im Judentum, hin.
Schicksal im Nationalsozialismus
Die Schrecken des Nationalsozialismus machten auch vor dem Jüdischen Friedhof in Groß-Gerau nicht halt. In dieser dunklen Zeit wurden jüdische Männer zur Grabschändung gezwungen. Sie mussten die Leichen ihrer Verwandten und Freunde auf Leiterwagen laden und zum jüdischen Zentralfriedhof karren, wo sie in einem Massengrab verscharrt wurden. Diese Gräueltat ist bis heute ein trauriger Teil der Geschichte des Friedhofs und auf einem Hügel auf dem Gelände sichtbar geblieben.
Gedenken und Erinnern
Die jüdischen Gräber sind schlicht gehalten. Es gibt keinen Grabschmuck, keine Bepflanzung, die Gräber liegen dicht beieinander. Manche Verstorbene wurden sitzend bestattet, was diese Nähe ermöglicht. Ein wichtiges Element der jüdischen Erinnerungskultur sind die so genannten „Gedenksteine“. Statt Blumen werden Steine auf die Gräber gelegt, um die Verstorbenen zu ehren und ihrer zu gedenken. Eine Gedenktafel auf dem Friedhof erinnert an die im Ersten Weltkrieg gefallenen jüdischen Soldaten, obwohl durch die Zerstörung jüdischen Eigentums und die Geschichtsfälschung in der NS-Zeit fälschlicherweise propagiert wurde, dass es „keine jüdischen Soldaten“ gegeben habe.
Der jüdische Friedhof in Groß-Gerau ist nicht nur ein Ort der letzten Ruhe, sondern auch ein Ort der Erinnerung und Mahnung. Er erzählt von der einst blühenden jüdischen Gemeinde, von Assimilation und Verfolgung. Wer diesen Ort besucht, kann in die Geschichte der Region und ihrer Menschen eintauchen und auf Schritt und Tritt Spuren jüdischen Lebens und jüdischer Kultur entdecken.
Wir bedanken uns herzlich bei Herrn Pfarrer Walter Ullrich für die informative Führung.
Jüdischer Friedhof Groß-Gerau
Theodor-Heuss-Straße (neben dem Schwimmbad). Der Friedhof ist verschlossen. Interessierte können den Schlüssel bei der Friedhofsverwaltung erhalten. Telefon 06152/716-6700
>> Kreisstadt Groß-Gerau
Ausführliche Informationen über den Jüdischen Friedhof Groß-Gerau sind bei gg-online abrufbar.
>> gg-online > Jüdischer Friedhof
Der Förderverein Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau e.V., Ehemalige Synagoge Riedstadt, ist ein Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, verbliebene Zeugnisse jüdischer Kultur aufzufinden, zu dokumentieren und die Erinnerung daran wachzuhalten. Pfarrer Walter Ullrich ist Vorsitzender des Vereins.
>> Förderverein Jüdische Geschichte
Der Jüdische Friedhof in Groß-Gerau.
Ein Beitrag zur Geschichte der Landjuden in Südhessen.
Von Angelika Schleindl unter Mitarbeit von Hanna Salomon.
158 Seiten mit Fotos, Zeichnungen und Karten.
1993. Justus von Liebig Verlag, Darmstadt.
Das Buch ist leider vergriffen.