In einer Zeit, in der politische Debatten oft verhärtet scheinen und sich Gräben durch die Gesellschaft ziehen, Wut- und Hasskommentare die sozialen Medien überschwemmen, unternimmt die grüne Politikerin Katrin Göring-Eckardt eine Reise durch Deutschland. Nach einem Wahlkampfauftritt in Dessau, bei dem sie massivem Hass begegnete und Menschen versuchten, sie niederzubrüllen, traf sie eine bemerkenswerte Entscheidung: Sie wollte verstehen. Statt sich zurückzuziehen oder nur mit Gleichgesinnten zu sprechen, machte sie sich auf den Weg, um zuzuhören. Wirklich zuzuhören.
Das Ergebnis ist ein beeindruckend vielschichtiges Portrait. Göring-Eckardt trifft Einsame und Überforderte, Wütende und Menschen voller Sorgen. Aber sie begegnet auch Mutigen und Optimisten, Menschen, die trotz aller Widrigkeiten an positive Veränderungen glauben. Sie spricht mit ihnen über die Themen, die das Land bewegen und spalten: über Geflüchtete, das Heizungsgesetz, über Zukunftsängste und die Frage, wie wir miteinander leben wollen. Diese Bandbreite macht das Buch so wertvoll: Es zeigt Deutschland nicht in Schwarz-Weiß, sondern in all seinen Facetten und Widersprüchen.
Eine Station führt sie ins sächsische Glashütte, weltbekannt für seine Uhrenindustrie. Die Arbeitsplätze sind sicher, doch das öffentliche Leben schwindet: keine Oberschule, ein verfallenes Schwimmbad, geschlossene Geschäfte. Die Menschen fühlen sich abgehängt und suchen nach Schuldigen. Die AfD holte hier bei der letzten Landtagswahl fast 40 Prozent. Doch es gibt auch andere Stimmen: Der Uhrenhersteller Nomos bezieht öffentlich Stellung gegen rechtes Gedankengut. Im Gespräch mit zwei Engagierten vor Ort wird deutlich, dass das Miteinander mühseliger geworden ist. Ihre Hoffnung? Dass man wieder gemeinsam lachen kann, vielleicht sogar Witze übereinander macht, Ost über West und umgekehrt. Humor als Schlüssel zur Wiederannäherung – eine Idee, die der Autorin gefällt.
In den Gesprächen gelingt es ihr, respektvoll zuzuhören, ohne zu urteilen. Wo andere mit Lautstärke und Anfeindungen reagieren, setzt sie auf Geduld und echtes Interesse. Sie lässt Menschen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven zu Wort kommen – auch solche, deren Ansichten sie nicht teilt.
Da, wo ich normalerweise anfangen würde zu reden, frage ich jetzt nur nach oder schweige einfach, gebe Raum, höre weiter zu. Und siehe da: Die Wut wütete weniger, auch meine Wut auf die Wütenden wird kleiner.
Gerade darin liegt eine wichtige Botschaft: Können wir trotz aller Meinungsverschiedenheiten noch miteinander sprechen? Können wir einander ausreden lassen und versuchen zu verstehen, statt nur unsere eigenen Positionen zu verteidigen oder die anderen zu übertönen?
Katrin Göring-Eckardt zeigt in diesem Buch, dass sie den Menschen aufmerksam zugehört hat. Sie beschreibt nüchtern die Wut, Enttäuschung und den Frust in Ost und West und benennt damit zentrale Konfliktlinien in unserem Land. Zugleich macht das Buch deutlich, wie aus ernsthaftem Zuhören Verständnis entstehen kann: Wer die Perspektive anderer nachvollzieht, kann sich eine fundierte eigene Meinung bilden und Gesprächsbereitschaft entwickeln – nicht, um zu überzeugen, sondern um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dieser Prozess ist anspruchsvoll, und das verschweigt die Autorin nicht. Eine gewisse Leichtigkeit und Humor können dabei helfen, schwierige Dialoge auszuhalten. Insgesamt ein ermutigendes Buch, das ich gerne weiterempfehle.
Die Autorin
Katrin Göring-Eckardt, geboren 1966 in Thüringen, ist Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen und seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags. Sie beteiligte sich aktiv an der friedlichen Revolution in der DDR und prägte in den folgenden Jahrzehnten die deutsche Politik mit. Neben ihrer parlamentarischen Arbeit war sie Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Dresden und langjähriges Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), wo sie als Präses eine Leitungsfunktion innehatte.

Deutschland, lass uns reden
Eine Reise durch die Seele der Republik
von Katrin Göring-Eckardt. Sachbuch.
253 Seiten. Ullstein Verlag, Berlin. 2025