Das Wesen des Leben: Von einer Seekuh, die die Welt veränderte

Stellersche Seekuh. Illustration: KI
So könnte sie ausgesehen haben, die Stellersche Seekuh. Illustration: KI, Prompt Ulla Blohberger

Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal von der Stellerschen Seekuh gehört? Ich nicht – bis ich vor ein paar Wochen am Schaufenster einer Buchhandlung vorbeikam und dieses Buch mit dem geheimnisvollen Wassertier auf dem Cover entdeckte. „Nominiert als Wissensbuch des Jahres 2025″ stand auf dem Aufkleber. Das machte mich neugierig. Ein ausgestorbenes Meeressäugetier? Erst im 18. Jahrhundert? Und dann auch noch als Wissensbuch nominiert? Ich kaufte es.

Wie so oft bei mir begann es dann aber mit dem Hörbuch. Ich höre seit 2012 bei audible und auch bei verschiedenen Radiosendern, und inzwischen ist das für mich der natürliche erste Zugang zu einem Buch geworden. Die finnische Autorin Iida Turpeinen erzählt in Das Wesen des Lebens die Geschichte der Stellerschen Seekuh: jenes mächtige, friedfertige Tier, das 1741 in den Gewässern vor Alaska entdeckt und nur 27 Jahre später ausgerottet war.

Turpeinen beginnt ihre Erzählung beim Skelett der Seekuh im Naturhistorischen Museum in Helsinki. Von dort springt sie mitten ins 18. Jahrhundert zur Großen Nordischen Expedition, die im Auftrag der Zarin unter der Leitung des dänischen Marineoffiziers Vitus Bering die nördlichen Küsten des russischen Reichs vermessen soll. Mit an Bord: der deutsche Naturforscher Georg Wilhelm Steller, der unermüdlich sammelt, skizziert und dokumentiert. Ein Besessener, würde man heute sagen.

Die Expedition nach Alaska – beim Hören wurde diese Passage für mich zum Herzstück des Romans. Als das Schiff in der Nähe der später nach Bering benannten Insel Schiffbruch erleidet, beginnt ein verzweifelter Überlebenskampf: Skorbut, Hunger, eisige Kälte. Viele Männer sterben, darunter Kapitän Bering selbst. Doch Steller lässt sich nicht beirren. Er nutzt jede Gelegenheit, um Flora und Fauna zu erfassen. Dabei entdeckt er das riesige Tier im flachen Wasser: eine Seekuh, groß wie ein Wal, sanft wie eine Kuh, völlig wehrlos. Die Männer erlegen sie, ihr Fleisch rettet sie vor dem Hungertod.

Hier wird es grausam – und faszinierend zugleich. Denn Steller denkt bereits weiter. Er will seine Entdeckung dokumentieren, träumt davon, dass das Tier eines Tages seinen Namen tragen wird. Turpeinen beschreibt schonungslos, wie er weitere Seekühe jagen lässt: Das Junge folgt seiner toten Mutter bis ins seichte Wasser, ruft sie mit grellen Schreien. Steller verdrängt sein Unbehagen. Das Werkzeug eines Naturforschers, lässt ihn Turpeinen denken, ist keine vage Idee oder Empfindung, sondern ein scharfes Messer und ein unbeirrbarer Schnitt, ein unerschrockener Blick in die feuchten Eingeweide.

Das Hörbuch wird gelesen von Heike Warmuth – ungekürzt, etwa sieben Stunden. Ihre ruhige, fast dokumentarische Stimme passt perfekt zu dieser Geschichte. Ihre Sachlichkeit macht die Grausamkeit der geschilderten Szenen noch eindringlicher. Ich höre meist abends, und mehr als einmal bin ich länger wach geblieben als geplant. Was mich besonders berührte: die Geschwindigkeit, mit der diese Art ausgelöscht wurde. 27 Jahre von der Entdeckung bis zur vollständigen Ausrottung. Wie kann das sein?

Später las ich den Roman noch einmal und entdeckte dabei, was beim Hören nicht so deutlich wurde: Turpeinen arbeitet mit vier eng miteinander verwobenen Erzählsträngen. Sie springt von der Expedition im 18. Jahrhundert in die Kolonialzeit Alaskas, wo der Zoologe Alexander von Nordmann und die Zeichnerin Hilda Olsson versuchen, die Erinnerung an die Seekuh zu bewahren. Die Geschichte von Hilda Olsson hat mich beim Lesen besonders gefesselt, eine Frau, die in einer von Männern dominierten Wissenschaftswelt um Anerkennung kämpft und doch das Wesentliche sieht: dass es um mehr geht als um Ruhm und Entdeckungen.

Dann weiter in die 1950er-Jahre nach Helsinki, wo der Restaurator John Grönvall das erste Skelett zusammensetzt. Geschickt mischt die Autorin Tagebucheinträge, Listen, wissenschaftliche Zitate und geografische Koordinaten mit atmosphärischen Szenen. Das verleiht dem Roman die Anmutung eines Forschungsberichts und sorgt gleichzeitig für Spannung.

Beim Lesen versteht man auch besser, wie durchkomponiert diese Struktur ist. Die verschiedenen Zeitebenen, die sich beim Hören eher intuitiv erschließen, offenbaren auf dem Papier ihre volle Raffinesse: die eingestreuten Koordinaten, die typografischen Spielereien, die Archivdokumente. Buch und Hörbuch ergänzen sich hier wunderbar. Jedes Medium hat seine eigenen Stärken.

Der Roman beleuchtet große Themen: Forscherdrang, koloniale Machtansprüche, patriarchale Strukturen, den rücksichtslosen Umgang mit der Natur. Und die tiefgreifende Frage, was bleibt, wenn eine Art unwiederbringlich verschwindet. Es scheint dem Menschen wichtig zu sein, schreibt Turpeinen, sich der bösen Taten gegenüber den Menschen zu gedenken, während man den bösen Taten gegenüber den Tieren kaum Aufmerksamkeit schenkt.

Immer wieder gingen meine Gedanken während der Lektüre zum Senckenberg-Museum in Frankfurt. Was für Geschichten stecken hinter den Skeletten dort? Nach der Lektüre bin ich dann tatsächlich hingefahren, ursprünglich wegen einer Sonderausstellung zur Grube Messel, aber mit einem ganz anderen Blick auf die ausgestorbenen Arten. Plötzlich sah ich nicht mehr nur Knochen, sondern Lebewesen, die einmal durch diese Welt gezogen sind.

Die Stellersche Seekuh ist seit 1768 ausgestorben. Aber in Turpeinens Erzählung erwacht sie für einen Moment zu neuem Leben. Und das Buch lässt einen nicht mehr los. Ein leichtes Buch ist das nicht. Die Zeitsprünge fordern Aufmerksamkeit, manche Passagen sind nur schwer zu ertragen. Aber es ist eines, das nachwirkt und den Blick schärft. Für alle, die sich für Natur, Geschichte und kluge Literatur begeistern,  als Hörbuch für konzentrierte Abendstunden oder als Buch zum vertiefenden Lesen.

Die Autorin

Iida Turpeinen, geboren 1987, lebt in Helsinki und forscht derzeit an einer Dissertation zum Verhältnis von Naturwissenschaften und Literatur. Sie ist eine preisgekrönte Autorin von Kurzgeschichten und legt mit Das Wesen des Lebens ihren ersten Roman vor.

Iida Turpeinen. Das Wesen des Lebens. S. Fischer Verlag

Das Wesen des Lebens
von Iida Turpeinen. Roman.
Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann.
305 Seiten. S. Fischer Verlag, Frankfurt. 2025

Gleichnamiges Hörbuch
Gelesen von Heike Warmuth
Laufzeit: 7 Stunden, 20 Minuten
Verlag Argon Digital

Sehenswert
Dreiminütiges Video von ZDF BuchZeit mit Fokus auf den Forscher und Entdecker der Stellerschen Seekuh Georg Wilhelm Steller.

Zum Beitragsbild
Die Illustration der Stellerschen Seekuh ist mit KI-Unterstützung entstanden.